Die Moral von der Geschichte

Sonntag, 9. Oktober 2016 12:44

Interview mit Wilhelm Schmid, Philosph

Wird, wenn man von Liebe spricht, Ihrer Ansicht nach der Wert vom Sex unterschätzt?

Sex in der Liebe wird unterschätzt, ja. Man weiss heute viel über die guten Konsequenzen: Sex wirkt Wunder für die Haut, da kann man sich alle Cremes sparen. Sex tut dem Gemüt gut und stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl, beides hormonell bedingt. Schon Knigge sagte in seinem Benimmwerk, beim Streit sollten die Eheleute am besten gleich miteinander ins Bett.

 

Das schlage ich meiner Frau auch immer gern vor, aber es klappt nicht in jedem Fall. 

Als ich längere Zeit im Krankenhaus gearbeitet und mit vielen Männern und Frauen gesprochen habe, erfuhr ich, dass viele überhaupt keinen Sex mehr haben. Ich begann daraufhin, auch privat Männer zu fragen, und tatsächlich, viele klagten, dass da nichts mehr sei. Darum habe ich ein Büchlein mit dem Titel „Sexout“ geschrieben mit zehn Beispielen, wie man wieder anfangen kann. Erst nach der Publikation des Buches wurde mir eine Studie bekannt, die in Deutschland schon etliche Jahre läuft und worin Tausende über Jahre gefragt werden, ob sie Sex hätten. Das Resultat ist beunruhigend: Die ersten sieben bis neun Monate ist alles wunderbar, dann geht es stetig bergab, und zwar in solchem Masse, dass ein Paar nach zehn Jahren so gut wie keinen Sex mehr hat.

 

Sie haben vorhin gesagt, dass die eine oder andere Ebene durchaus über eine gewisse Zeit ausfallen kann.  

Trotzdem hat es mich entsetzt. Das muss ja nicht das Ende der Beziehung bedeuten, keiner muss sich Sorgen machen. Aber viele gehen dann eben ihren eigenen Weg. Der eine beschäftigt sich mit den Kindern, der andere mit dem Beruf, man arrangiert sich und je nachdem holt man sich den Sex anderswo. Männer wie Frauen.

 

Gemeinsam einsam, sozusagen. Wie kann es so weit kommen?

Menschen wollen Möglichkeiten. Sie sind nie zufrieden mit der Wirklichkeit. Deshalb sind Freundschaften so wichtig. Nicht nur gemeinsame, sondern auch individuelle, denn Freundschaften schaffen Möglichkeiten, verschiedene Interessen auszuleben, die nicht sexuell sein müssen. Das ist ja das Schöne an der Freundschaft, dass sie von der ewigen Frage nach dem Einen völlig frei ist. Umso entspannter kann sie sein, alles Mögliche miteinander zu unternehmen. Ein Paar für sich kann niemals alle Möglichkeiten abdecken. Dazu sind Freundeskreise da.

 

Nehmen wir unsere Liebe zu wenig ernst? 

Die Einflüsse von Aussen sind gewaltig. Vielleicht war das schon immer so. Es muss ja Gründe haben, warum Männer so lange so rüde mit Frauen umgegangen sind, sie geknechtet und unterjocht haben. Ich glaube, das war der Versuch, die permanente Versuchung zu reduzieren. Sie wussten sich nicht anders zu helfen. Das ist kein Versuch zur Rechtfertigung, nur ein Versuch zu verstehen, wie es zu diesem Verhalten kommen konnte.

 

Arme Männer.

Ja, arme Männer, denn wir müssen uns anders zu helfen wissen. Es ist vollkommen sinnlos, ein Machtspiel anzuzetteln und die andere Seite zu unterwerfen. Aber die Möglichkeiten locken, und heute erleben wir das von neuem mit den neuen Medien. Nichts einfacher, als heute zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit an jedem beliebigen Ort für jedes beliebige Interesse eine neue Möglichkeit zu finden. 

 

Die Antwort darauf?

Die Antwort darauf kann nur sein, die Möglichkeiten in Grenzen zu halten. 

 

Aus moralischen Gründen?

Nein. Wenn wir die Möglichkeiten nicht in Grenzen halten, verzetteln wir uns, dann wissen wir nicht mehr, wohin wir gehören und wer wir überhaupt sind. Zudem schaffen wir keine Wirklichkeit. Eine Nacht mit jemandem zu verbringen oder ein paar Tage, das ist keine Wirklichkeit. Mit jemandem aber Jahre und Jahrzehnte durch alle Schwierigkeiten hindurch zu gehen, das schafft Wirklichkeit. Und darum geht es letzten Endes im Leben: Dass wir eine oder zwei oder drei der unzähligen Möglichkeiten verwirklichen. Aber wirklich.

 

Hats der Mann schwieriger in der Liebe?

Nicht nur in der Liebe, sondern im  Leben. Das kann man an der Kriminalstatistik ablesen. Die Frauen sind so freundlich, nicht dauernd auf diesen Zahlen rumzureiten, wie viele Männer und wie viele Frauen im Gefängnis sitzen. Aber neun Zehntel sind Männer. Die Frauen führen uns auch nicht permanent die Unfallstatistik vor. Es ist eine Lüge, wenn Männer behaupten, Frauen könnten nicht Autofahren. Das Gegenteil stimmt. Männer verursachen deutlich mehr schwere und tödliche Unfälle. Männer gefährden ihr Leben, und oft genug auch das Leben anderer, sie achten weniger auf ihre Gesundheit, sie  ernähren sich schlechter und bezahlen all das mit einer geringeren Lebenserwartung. Ich weiss aber, was die Antwort vieler Männer darauf ist: Mir doch wurscht, Hauptsache, ich habe voll Stoff gelebt. Ja, das ist Mannsein. Aber nicht für mich.

 

Da wäre die Liebe vielleicht ein geeignetes Medikament für jene, die gern  älter werden wollen?

Ja, schon, aber der Mann bringt eben diese gewissen Defizite für eine gut funktionierende Beziehung mit.

 

Die da wären?

Er ist weniger kommunikativ, er ist ungeduldig und schnell genervt, wenn die Frau schon wieder reden will. Selbst nach dem Sex will sie gleich wieder reden, und da will der Mann erst mal sein vergeudetes Testosteron im Schlaf regenerieren, wieder Kräfte sammeln. Es ist ja schon zu Beginn schwierig, zur Sache zu kommen, aus guten Gründen: Denn eine Frau riskiert beim Sexakt unendlich viel mehr als jeder Mann. Natürlich braucht es beide, damit ein Kind gezeugt werden kann, aber der Mann kann sich nach der Zeugung oder der Geburt davon machen, und leider machen das auch etliche. Eine Frau kann das nicht. Deshalb muss sie schon vorher sämtliche Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, und ich glaube, das sitzt so tief in ihr drin, dass sie davon auch keinen Abstand nehmen kann, auch wenn es gar nicht um einen Zeugungsakt geht. Nein, das bleibt in ihr drin, und es wäre wichtig für Männer, das zu verstehen, um darauf eingehen zu können. Die Frauen schätzen es, wenn sie Verständnis finden und Einfühlung. Das ist, was sie von Männern wollen und auch kriegen könnten. Dieses Verständnis aufzubringen gehört für mich zum Mannsein.